Liebt eure Feinde!
Vielleicht denken Sie sofort: so ein Schmarrn! Wer kann seinen Feind lieben?!
Die katholischen Christen werden diesen Aufruf Jesu am Sonntag als Evangelium hören, auch in der Ukraine. Wie sollen sie die Russen lieben, die sie bedrohen, mit dem Tod bedrohen? Das kann man doch keinem vernünftigen Menschen zumuten.
Da scheint uns das Alte „Aug um Auge, Zahn um Zahn“ viel einleuchtender und gerechter. Der große indische Freiheitskämpfer Gandhi hat das Problem mit einem Satz geklärt: Aug um Auge - und die Welt wird blind sein.
Ist dann die Weisung Jesu doch sinnvoller „liebt eure Feinde“? Aber wie meint er das? Jesus hat weder den Hohepriester noch Pilatus umarmt, die ihn zum Tod verurteilt haben. Am Kreuz hat er allerdings gebetet: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Er fordert nicht ihren Tod als Vergeltung.
Er will, dass sie leben.
Nelson Mandela, der in Südafrika 27 Jahre lang im Gefängnis saß, schreibt in seiner Biografie: Als ich das Gefängnis verließ, war es meine Aufgabe, beide, den Unterdrücker und den Unterdrückten zu befreien...Denn um frei zu sein genügt es nicht, einfach nur die Ketten abzuwerfen, sondern man muss so leben, dass man die Freiheit des andern respektiert und fördert.“ Weil er auf Rache und Vergeltung verzichtet hat, hat Nelson Mandela entscheidend dazu beigetragen, dass die Rassentrennung ohne Blutvergießen überwunden wurde und ein neues Südafrika entstand.
Die Forderung Jesu scheint utopisch. Doch wo ein Mensch sie erfüllen kann, entsteht etwas Großes - im Staat, in der Gesellschaft und im privaten Leben.
Wir können uns ruhig eingestehen: ich kann die Forderung Jesu - noch - nicht erfüllen. Ich will mich aber für ein friedliches Zusammenleben einsetzen, wo ich eine Chance habe. Und ich kann ja weiterwachsen – mit Gottes Hilfe.
Karl Wuchterl